MUSICA OBLITA

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Sinfonie Nr. 2 Es-Dur op. 17

Kalliwodas Sinfonie Nr. 2 Es-Dur op. 17 entstand wahrscheinlich zwischen Januar 1826 und Februar 1827: Die beiden Daten markieren die Zeitspanne zwischen der erfolgreichen Leipziger Aufführung seiner ersten Sinfonie und der ersten nachweisbaren Aufführung dieser zweiten, die am 15. Februar 1827 im Gewandhaus zu Leipzig erfolgte.[1] Die erste Aufführung an Kalliwodas Wirkungsstätte Donaueschingen fand wahrscheinlich am 14. März 1827 im Rahmen eines Hofkonzerts statt; sicher ist das Datum allerdings nicht, weil an diesem Tag lediglich eine nicht näher bezeichnete Sinfonie von Kalliwoda aufgeführt wurde[2]; es könnte sich also auchum die erste gehandelt haben. Die Leipziger Kritik reagierte wohlwollend auf Kalliwodas neues Werk, stellte es aber unter die erste Sinfonie. Bezeichnend ist allerdings – wie bei der ersten Sinfonie – die Ausführlichkeit, mit der sich der Rezensent dem Werke widmete – ein Indiz für die Bedeutung, die einer neuen Sinfonie von Kalliwoda beigemessen wurde:

J. W. Kalliwoda, dessen erste von uns mit verdientem Lobe bereits erwähnte Symphonie vor Kurzen [am 26. Oktober 1826] zu allgemeiner Freude wiederholt worden war, bewies auch in seinem zweyten Werke, dass er bey grosser Gewandtheit im Technischen der Kunst einen sehr zu ehrenden Geraden Sinn sich zu erhalten gewusst hat, der in sich selbst gross genug ist, alle bloss erkünstelte sogenannte Originalität zu verschmähen und vielmehr mit möglichster Lebendigkeit eben das zu geben, was, in glücklicher Stunde empfangen, seine Seele festzuhalten vermochte - ein Vorzug, der eigentlich bey Jedem vorausgesetzt werden müsste, der aber gerade darum jetzt so empfehlungswerth wird, weil Viele ihr trügerisches Heil in einer geschraubten Zusammenstellung oft der verschiedenartigsten Dinge suchen, womit sie nicht der Wahrheit und der Dauer, sondern einer in sich matten und hinfälligen Ruhmliebe huldigen. Die Melodieen, die K. uns vorführt, ihre Verknüpfungen und Nachahmungen durch die verschiedenen Instrumente sind so natürlich und daher gefällig, dass das Ganze angenehm unterhält, wie ein freundliches Gespräch, ohne das Gefühl bis zur Entzückung zu steigern. Die Erfindung hat nichts Hervorstechendes, und in der Hinsicht muss man das zweite Werk wohl unter das erste stellen; aber die Durchführungen und Verarbeitungen der Sätze sind sämmtlich sehr wohl gerathen, wenigstens die drey ersten, denn der letzte ermangelt eines guten musikalischen Motives und hebt desshalb, um den gefühlten Mangel nothgedrungen zu decken, gleich so bunt an, dass in diesem letzten Satze an eine sich steigernde Durchführung, wie sie die ersten Sätze zu behaupten wissen, nicht zu denken ist. Der verdiente Beyfall wurde nicht versagt.[3]

Amadeus Wendt äußerte in der von Adolf Bernhard Marx herausgegebenen Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitschrift eine ähnliche Meinung:

2 Symphonien von Kalliwoda, von welchen die erste schon im Winter-Abonnement 1825-26 mit vielem Beifall aufgenommen, und von mir in diesen Blättern angezeigt wurde, (sie ist bei Breitkopf und Härtel gestochen worden); die zweite aber in dem letzten Winterabonnement aus der Handschrift des Tonsetzers zum ersten Mal gegeben wurde. Sie wird jetzt in derselben Offizin gestochen und wird nächstens erscheinen. Sie ist heiterer, als die erste, eben so fliessend und symmetrisch gearbeitet, aber zieht den Hörer weniger fortdauernd an. Durch eine kleine Einleitung im Larghetto Es-dur C. bereitet der Tonsetzer das Allegro vivace vor, einen bewegten und heitern Satz. Das Andante espressivo aus As-dur 2/4 ist melodiös, aber dem Komponisten etwas zu lang gerathen, das Menuetto (Allegro risoluto Es-dur 3/4) regt wieder die Kraft auf und in dem Rondo (Allegro con spirito Es-dur) bewegt sich der Komponist mit grösster Leichtigkeit selbst in den selbstgewählten Fesseln des fugirten Satzes.[4]

In einem Punkt sollte sich Wendt aber täuschen: Die Sinfonie erschien nicht bei Breitkopf & Härtel und auch nicht mehr im Verlauf des Jahres 1827. Ein zweites Mal erklang die Sinfonie – wiederum aus dem Manuskript – am 5. März 1829 im Gewandhaus, wahrscheinlich in einer stark umgearbeiteten Fassung (s.u.). Kalliwoda war bei dieser zweiten Leipziger Aufführung selbst anwesend und spielte in demselben Konzert auch das Concertino op. 15 und die Polonaise op. 8 für Violine und Orchester, ein Umstand, der, wie der Rezensent der Allgemeinen musikalischen Zeitung unterstreicht, auch den Eindruck, den die Sinfonie machte, erheblich steigerte:

Im siebenzehnten Abonnements-Concerte hörten wir die zweyte Symphonie von Kalliwoda, mit Feuer und Leben ausgeführt. Rauschender Beyfall dankte den ausübenden Künstlern und dem gegenwärtigen Componisten, in dessen Genius wir zugleich das Anziehende eines menschenfreundlichen und ächt bescheidenen Wesens kennen gelernt und, wie natürlich, lieb gewonnen hatten. Wenn es wahr ist, was Einige behaupten, dass rechtschaffene Kunst und wahrhafter Geistesgehalt stets mit Bescheidenheit gepaart sei, die nothwendig aus dem innigen Streben nach Annäherung an ein selten, oder nie ganz zu erreichendes Ziel hervorgehen müssen: so möchten wir wohl wissen, wie gross die Zahl der Falschkünstler und der dünkelhaft pfiffigen Effecthascher ist, die nie genug gepriesen werden können, wenn das Publicum einmal etwas von ihrer Arbeit mit Beyfall aufgenommen hat. Welchen eigenen Zauber hingegen das Blümchen Wunderhold über Alles duftet, das empfinden wir hier zu unserer grossen Freude abermals auf eine recht einleuchtende Art. Hätte ein Anderer, als K., ebendasselbe nicht minder schön componirt und gespielt: so würde es wohl gefallen, aber doch gewiss nicht halb so sehr ergötzt haben und geachtet worden seyn. Man sage, was man will: die Bergpredigt wird in ihren Seligpreisungen wohl Recht behalten, und es wäre nicht übel, wenn sich Mancher diess ein wenig zu Herzen nehmen wollte. Wir fanden nämlich das Concertino, die Polonaise und die Variationen Ks. recht nett und freundlich (die Variationen am wenigsten): doch scheint uns Hrn. Ks. Talent sich noch mehr dem Grösseren, am Meisten der Symphonie, zuzuneigen, was wir uns auch wohl zu erklären wissen. [...]“[5]

Wiederum kommt Amadeus Wendt zu einer ähnlichen Einschätzung der Situation und der Sinfonie:

Seine zweite Symphonie, welche hier ebenfalls zum erstenmale und zwar 1827 und 28 aufgeführt worden war, hatte nicht in dem Maasse, wie die erstere Beifall gefunden, aber erhielt nun, da das Orchester sie in Gegenwart des Meisters selbst exact und feurig vortrug einen neuen Glanz. Innerer Zusammenhang, gefällige Gedanken, gute und tüchtige Ausarbeitung sind ihre Hauptvorzüge; nichts Affektirtes, keine blosse Ohrenlust, aber auch kein falscher Bombast ist in ihr zu vernehmen. So erhält sie auch verdienten Beifall.[6]

Wie bereits angedeutet hatte Breitkopf & Härtel den Verlag der Sinfonie wider Erwarten abgelehnt; auch die zweite Leipziger Aufführung vom 5. März 1829 konnte daran nichts ändern. Am 28. März ließ der Verlag den Komponisten brieflich wissen:

Es thut uns herzlich leid, daß wir das Vergnügen entbehren mußten, Ihre zweite Symphonie, so wie die erste, zu verlegen, allein wir sind in solcher Hinsicht nur zu sehr von dem Publikum abhängig, und dies schien bei der ersten Aufführung derselben allerdings nicht so dafür eingenommen zu seyn.[7]

Selbst die Anwesenheit des Komponisten und seine von den Rezensenten beschriebene Wirkung auf das Publikum hat den Verlag nicht umzustimmen vermocht; jedoch nahm sich ein anderer renommierter Leipziger Verlag des Werkes an: Es erschien im Frühherbst 1829 im Bureau de Musique von C. F. Peters[8]. Die Verbindung von Kalliwoda und Peters erwies sich als langlebig; alle späteren Sinfonien Kalliwodas (außer der Manuskript gebliebenen 7. Sinfonie) nahm Peters in Verlag. Zu Anfang 1831, gut ein Jahr nach dem Stimmdruck, brachte Peters auch eine von Carl Czerny verantwortete Bearbeitung für Klavier zu vier Händen heraus[9], ein Beleg dafür, dass das Werk über den Konzertsaal hinaus beliebt zu werden versprach. Kalliwoda widmete die Druckausgabe seinem Dienstherrn, Fürst Karl Egon II., der seinem Kapellmeister in einem undatierten, mutmaßlich aber in die Zeit des Erscheinens im Druck zu datierenden Schreiben dankte und ihm eine Tabatière schenkte.[10]

Die Allgemeine musikalische Zeitung, obwohl bei Peters’ Konkurrenten Breitkopf & Härtel erscheinend, druckte bereits am 4. November 1829 – also unmittelbar nach Erscheinen des Stimmdrucks – eine Rezension desselben, in welcher der anonyme Rezensent kurz und prägnant sowohl die Situation eines zeitgenössischen Sinfonikers umreißt als auch eine kurze Charakteristik des Werkes gibt (freilich nicht ohne auf die verlagseigene erste Sinfonie hinzuweisen):

Seit Beethoven's geniale Kraft vor Allem in dieser Musikgattung immer mehr die Liebe der Vortragenden und der Hörer sich gewann, seitdem seine Symphonieen an meisten von Leipzig aus in allen namhaften Städten Teutschlands und im Auslande grösstentheils Enthusiasmus erregten, hält es sehr schwer, in diesem Fache etwas zu leisten, was vom Publicum anerkannt wird. Viele Tonsetzer haben es in der neuesten Zeit versucht, solcherley Werke ihrer Muse zu Gehör zu bringen und noch mehre wünschen es. Es sind aber zwey Klippen, an denen der Versuch gewöhnlich scheitert. Nähern sich diese Tondichtungen anderer Componisten den Beethoven'schen zu sehr, so verwirft man sie nur zu leicht als Nachahmungen, stehen sie jenen zu fern, so sprechen sie in der Regel nicht an. Fällt also das Schiff nicht in die Scylla, so fällt es in die Charybdis. Hr. K. ist glücklich zwischen den beiden Ungeheuern durchgesegelt. Seine erste, bey Breitkopf und Härtel im Druck erschienene, Symphonie machte hier und anderwärts grosses Aufsehen, und die zweite, die wir jetzt anzuzeigen haben, gefiel nicht minder. Beyde verdienen auch den Beyfall. Sie sind frisch und lebendig in Erfindung, klar gedacht, geschickt durchgeführt und so voll instrumentirt, wie es den Zeiterfordernissen angemessen ist. Auf eine genauere Auseinandersetzung ihres Baues müssen wir leider verzichten, da sie nicht in Partitur, sondern nur in Stimmen vor uns liegt. Von ihrer Wirksamkeit sind wir jedoch aus Erfahrung gewiss, und empfehlen sie daher allen Orchestern angelegentlichst. Druck und Papier sind schön, und der Preis mässig.[11]

Auch der Berliner Kritiker Ludwig Rellstab, dessen spitze Feder bei Komponisten wie Interpreten gefürchtet war, sucht in seiner Rezension, die in der von ihm im Alleingang geschriebenen und redigierten Zeitschrift Iris im Gebiete der Tonkunst erschien, Kalliwodas Werk in den kompositionsgeschichtlichen zeitgenössischen Zusammenhang einzuordnen und – das ist durchaus ungewöhnlich – gesteht dabei der nachbeethovenschen Komponistengeneration ein eigenes, wenn auch verglichen mit Beethoven nur abgeleitetes Existenzrecht zu. Von Ferdinand Ries (1784-1838) waren bis dato sechs Sinfonien bekannt geworden; der jung verstorbene Friedrich Ernst Fesca (1789-1826) hatte zwischen 1817 und 1819 drei Sinfonien veröffentlicht; und Louis Spohr (1784-1859) brachte es bis zum Zeitpunkt von Rellstabs Rezension ebenfalls auf drei Sinfonien; Kalliwodas Werk indes erscheint in Rellstabs Interpretation als der Gipfel nachbeethovenscher Sinfonik, indem es alle Neuerungen synthetisierend aufgreift und gleichzeitig die Tradition des strengen Satzes weiterführt:

In dem vorliegenden Werke finden wir sehr viel Verdienstliches. Der Komponist, gewohnt auf blendende Effekte hinzuarbeiten, hat es auch hier nicht unterlassen, so daß wir im Ganzen dem Werke den Beinamen glänzend ertheilen möchten. Doch nicht immer ist es bloßer Glanz; oftmals finden wir denselben auf ächtes Metall basirt. Die Symphonie steht in der Zeithöhe, d. h. wir treffen diejenigen Charakterzüge und Eigenschaften, zu der die Gattung, auf dem unerschütterlichen Dreyfuß Haydn, Mozart, Beethoven ruhend, von späteren Meistern, als Ries, Fesca, Spohr, ausgebildet ist, darin wieder. Wir können daher auch die Arbeit für eine von Fesca halten, doch hat dieser weniger Pracht; sie dürfte uns für eine von Ries gelten, obgleich dieser Meister gewöhnlich ernster, zumeist auch gediegener schreibt; wir können sie endlich Spohr zuschreiben, wenn derselbe nicht die Freiheit der Bewegung zu sehr in angenommener Manier verloren hätte. Dies bildet das Fazit unseres Urtheils. Nämlich der Komponist hat sich das Gute der drei genannten Meister angeeignet, ohne einem zu bestimmt gefolgt zu seyn, jedoch aber auch ohne sich zu einer hervortretend selbstständigen Eigenthümlichkeit zu erheben. Indeß bei so frühen Leistungen ist dies überhaupt niemals der Fall, und wir dürfen also nicht daraus schließen, daß Herr Kalliwoda sich nicht einen selbstständigen Charakter zu schaffen, und dereinst eine eigenthümliche Stufe in der Musik zu erringen vermöge. Was uns besonders an der Arbeit erfreut, ist, daß wir Fleiß darin antreffen, ohne durch denselben der freien Erfindung Fesseln angelegt zu sehen. Der Komponist bewegt sich im gearbeiteten Satz mit angenehmer Leichtigkeit.[12]

Andrerseits erwies sich die Skepsis von Breitkopf & Härtel als berechtigt; denn anders als seine erste Sinfonie, die es bis 1842 in Leipzig auf mindestens zwölf Aufführungen brachte[13], erlebte Kalliwodas zweite Sinfonie in Leipzig nur eine weitere Aufführung nach der erwähnten Präsentation der überarbeiteten Fassung am 5. März 1829. Diese letzte von insgesamt drei Leipziger Aufführungen fand am 18. Februar 1830 statt; die Allgemeine musikalische Zeitung hielt nur die Tatsache fest, ohne sich auf eine Besprechung einzulassen.[14] 

Doch aufs Ganze gesehen kann durchaus festgestellt werden, dass Kalliwodas zweite Sinfonie in den 1830er Jahren zu den meistgespielten nachbeethovenschen Sinfonien überhaupt gehörte. In Breslau, wo sie im Winter 1830/31 erklang, fand man sie „an Eigenthümlichkeit reich.[15] Ebenfalls im Winter 1830/31 stand sie bei den Abonnementkonzerten in Magdeburg auf dem Programm; dort galt sie zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr als neu und wurde infolgedessen auch nicht besprochen.[16] Sie fand Aufnahme in eins der drei Winterkonzerte, die Ferdinand Hand in der ersten Hälfte 1832 in Jena organisierte[17]. In Prag, wo sie um die Jahreswende 1832/33 in einem Konzert des Konservatoriums erklang, fand man nicht ohne einen gewissen Lokalpatriotismus, das Werk mache „ihrem wackern Meister, der sich nun schon in einem grossen Theile Deutschlands die verdiente Anerkennung erworben, volle Ehre[18]. Im Winter 1833/34 erklang sie in Basel[19] und erneut in Jena[20]. In der Saison 1834/35 wurden in Halle an der Saale gleich mehrfach Sinfonien von Kalliwoda aufgeführt, darunter auch die zweite.[21] Der Musikverein zu Erfurt hatte seit seiner Entstehung im Juli 1826 bis zum November 1834 alle drei bis dahin erschienenen Sinfonien Kalliwodas öffentlich produziert, wobei Kalliwoda an Aufführungszahlen sogar Haydn (mit einer Sinfonie) und Mozart (mit zwei Sinfonien) übertraf.[22] 1837 erfreute sich das Werk einer Aufführung durch die Herzogliche Hofkapelle in Dessau unter Leitung von Friedrich Schneider [23] (dessen Nachfolger zu werden Kalliwoda 17 Jahre später angetragen wird). Bei einer erneuten Aufführung durch das Prager Konservatoriumsorchester im Jahr 1838 sprachen, wie der Berichterstatter der Allgemeinen musikalischen Zeitung festhält, „nach dem Beifall zu urtheilen, [...] das Larghetto und die Minuette am meisten[24] an. Die letzte Aufführung des Werkes zu Kalliwodas Lebzeiten fand vermutlich am 23. April 1864 im Rahmen eines Museumskonzertes in Donaueschingen statt.[25]

In Gesamtdarstellungen von Kalliwodas Sinfonik nimmt seine zweite Sinfonie eine eigentümlich ambivalente Stellung ein: Einerseits wird sie nie zu seinen besonders herausragenden Sinfonien gezählt; das sind – mit von Autor zu Autor schwankender Akzentuierung – immer die Sinfonien Nr. 1, 3 und 5.[26] Andererseits wird festgestellt, dass die zweite Sinfonie sich zwar sehr von der ersten unterscheide, aber der ersten keineswegs an Qualität nachstehe. In einem der frühesten lexikalischen Einträge zu Kalliwoda, im Musikalischen Conversations-Lexikon von August Gathy, ist die Auffassung zu finden, dass Kalliwodas erste und zweite Sinfonie qualitativ auf einer Stufe stehen:

Er machte Aufsehen durch seine erste Sinfonie, F-moll, die ganz den Mozart’schen Geist athmet und viele Arbeiten dieser Art an natürlichem Fluß, Schönheit der Melodien, Innigkeit des Gefühls und lebensvollem Schwung übertrifft. Auch seine zweite Sinfonie Es dur ist eine feurige Komposition hat Frische der Melodie, schlichte Harmonie und ist frei von gesuchten und modernen Figuren.[27]

Der bereits zitierte Hermann Kretzschmar sieht in der zweiten Sinfonie sogar einen Fortschritt gegenüber der ersten:

Die zweite Sinfonie Kalliwodas zeigt bedeutende Fortschritte in der Form. Die Verbindungsgruppen sind gedankenvoller geworden und können der Stütze durch Figurenwerk entrathen. Der poetische Glanzpunkt des Werkes liegt in der kleinen Coda des Larghetto, welche der scheinbar schon geschlossenen Dartstellung noch einen ganz neuen traulich herzlichen Gedanken in Canonform nachsendet.[28]

David E. Fenske hingegen hebt in der Einleitung seiner Faksimile-Edition insbesondere den „kontrapunktischen, gelegentlich kanonischen Stil aller Sätze[29] hervor. László Strauß-Németh wiederum betont neben der „polyphone[n] Satzführung“ die „Verbundenheit mit der Klassik und speziell die Ähnlichkeit zu Mozart – hier besonders zu der tonartlich gleichen Es-Dur-Sinfonie, KV 543“.[30] 

In der Tat hat Kalliwoda vielfach kompositorische Ideen seiner ersten Sinfonie in seiner zweiten weiter entwickelt und weitere Innovationen hinzugefügt. Etwa die formale Gestaltung: Waren die Ecksätze im früheren Werk als achsensymmetrische Sonatensätze (mit der Durchführung als Zentrum und Spiegelachse) angelegt, so dass in der Reprise die Reihenfolge von (in der Reprise freilich stark verkürztem) Haupt- und Seitenthema umgekehrt wurden, so komponiert Kalliwoda als Kopf- und Schlussatz nunmehr reguläre Sonatensätze, fügt aber im Kopfsatz als Neuerung die Wiederaufnahme des Schlusses der Langsamen Einleitung am Beginn der Reprise hinzu. Verkürzt ist in der Reprise nur der Überleitungs- und Seitensatzbereich. 

In der thematischen Stringenz erreicht Kalliwoda eine neue Stufe: War in der ersten Sinfonie das motivische Material von Haupt-, Seiten- und Schlussgruppenthemen völlig unabhängig voneinander (wobei allerdings die Schlussgruppenthemen von Kopf- und Finalsatz ziemlich identisch sind), so nutzt Kalliwoda im ersten Satz der zweiten Sinfonie die bewegliche Sprunghaftigkeit des Hauptthemas zur Herstellung von Assoziationen in der Schlussgruppenthematik. Im Finalsatz – der zwar „Rondo“ überschrieben ist, aber in seinem Aufbau ganz der Sonatenform folgt – gewinnt Kalliwoda aus der Kombination von Haupt- und Seitenthemenkopf das Material der Schlussgruppe. 

Auch kontrapunktische Satztechniken sind in der zweiten Sinfonie viel flexibler gehandhabt als in der ersten. Verwendete Kalliwoda in dieser vornehmlich einfache Kanontechniken – etwa am Schluss des ersten Satzes und im Scherzo –, so exponiert er in der zweiten Sinfonie gleich in der Langsamen Einleitung einen regelrechten Fugenbeginn mit vier Einsätzen. Das Anfangsintervall des Fugensubjektes, eine steigende Sexte, wird später zum Ausgangspunkt der Quart-, Terz- und Sextsprünge des Allegro-Hauptthemas, und die Kontrapunktik der Einleitung hat ihren Widerhall in den Imitationen des Hauptthemenkopfes in der Überleitung vom Haupt- zum Seitenthema. Im Finalsatz ist die ganze Hauptthemenexposition als imitatorischer Satz angelegt, ohne doch – wie in der Langsamen Einleitung – eine strenge Fuge zu sein: Sechs Mal setzt das viertaktige Anfangsmotiv in unterschiedlichen Lagen der Streicherstimmen ein, bevor ein kadenzierender Tuttiblock zur Überleitung führt, die in ihrem weiteren Verlauf erneut Imitationen des Anfangsthemas bringt. 

Auch die Mittelsätze zeugen von Kalliwodas formaler und satztechnischer Sensibilität: Der langsame Satz, ein Larghetto in As-Dur, weist in der Exposition zwischen Haupt- und Seitenthemenbereich einen dramatisch bewegten Abschnitt in der Paralleltonart f-Moll auf, der in der Reprise zugunsten eines ruhig-heiteren Gesamteindrucks wegfällt; die formale Balance wird durch eine 15 Takte umfassende Coda gewährleistet, in der das in Sequenzen sanft absteigende Seitenthema (einschließlich seiner Umspielungen) weitergesponnen wird. Das Scherzo im schnellen Allegro risoluto-Tempo wird in seinem Hauptteil von Imitationen zwischen Melodiestimme und Bass sowie akzentbetonten Synkopen bestimmt, während das in Instrumentation und Duktus kontrastierende Trio durch das Zitat des berühmten viertönigen Kopfmotivs aus Mozarts Jupiter-Sinfoniefinale auf sich aufmerksam macht.[31]

Bert Hagels

[1] Vgl. László Strauß-Németh, Johann Wenzel Kalliwoda und die Musik am Hof von Donaueschingen, 2 Bde., Hildesheim, Zürich, New York, 2005, Bd. 1, S. 336; vgl. Bert Hagels, Konzerte in Leipzig 1779/80 bis 1847/48. Eine Statistik, Berlin 2009, CD-ROM, S. 787, mit Nachweisen; die Angaben bei Strauß-Németh, op. cit., Bd. 1, S. 144, sowie Bd. 2, S. 44, sind entsprechend zu berichtigen.

[2] Vgl. László Strauß-Németh, Johann Wenzel Kalliwoda, a.a.O., Bd. 1, S. 72, Anm. 20.

[3] „Leipzig, am 20. Februar“, in: Allgemeine musikalische Zeitung [im Folgenden: AmZ] XXIX (1827), Sp. 156-159; hier Sp. 158f.

[4] Amadeus Wendt, „Ueber das Abonnement-Konzert in Leipzig“, in: BAMZ IV (1827), S. 397-400; hier S. 397f.

[5] „Leipzig“, in: AmZ XXXI (1829), Sp. 200-201; hier Sp. 200.

[6] Amadeus Wendt, „Schluss der Berichte aus Leipzig“, in: BAMZ VI (1829), S.171-174; hier S. 171; eine weitere öffentliche Resonanz von Kalliwodas Leipziger Auftritten vom März 1829 findet sich in der Zeitung für die elegante Welt 29 (1829), Sp. 551f., wobei das Interesse des Berichterstatters („C.F.B.“ = Carl Ferdinand Becker?) allerdings weniger Kalliwodas Sinfonie als vielmehr seinem Violinspiel gilt, das mit dem des kurz nach ihm konzertierenden Virtuosen Sigismund von Praun (1811-30) verglichen wird.

[7] Breitkopf & Härtel an Johann Wenzel Kalliwoda, Leipzig 28.03.1829; zitiert nach: Axel Beer, Musik zwischen Komponist, Verlag und Publikum. Die Rahmenbedingungen des Musikschaffens in Deutschland im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, Tutzing 2000, S. 226 und 275.

[8] Angezeigt für September/Oktober 1829 in: Musikalisch-literarischer Monatsbericht neuer Musikalien, musikalischer Schriften und Abbildungen für das Jahr 1829, Leipzig 1829, S. 70; als Datenbank und Faksimile online verfügbar unter: http://www.hofmeister.rhul.ac.uk/2008/index.html. Spätere Anzeigen: „Intelligenz-Blatt“ der AmZ vom November 1829 und Allgemeiner Anzeiger der Deutschen vom 16. 12. 1829.

[9] Angezeigt für Januar/Februar 1831 in: Musikalisch-literarischer Monatsbericht neuer Musikalien, musikalischer Schriften und Abbildungen für das Jahr 1831, Leipzig 1831, S. 6; a.a.O.; Anzeige auch in: Allgemeiner Anzeiger der Deutschen vom 29. 04. 1831.

[10] Der Brief ist auszugsweise zitiert bei: László Strauß-Németh, Johann Wenzel Kalliwoda, a.a.O., Bd. 1, S. 72.

[11]Seconde Sinfonie à grand Orchestre composée - par J. W. Kalliwoda. Op. 17. (Proprété de l'édit.) Leipzig, au Bureau de Musique de C. F. Peters. Pr. 4 Thlr“, in: AmZ XXXI (1829), Sp. 721. Eine kurze Rezension des Anfang 1831 erschienenen Klavierauszuges in: AmZ XXXIII (1831), Sp. 684.

[12] Ludwig Rellstab, „Seconde Sinfonie par J. W. Kalliwoda. Oeuv. 17“, in: Iris im Gebiete der Tonkunst 2 (1831), S. 89f.; Hervorhebungen original.

[13] Im Gewandhaus: 19.01.1826, 26.10.1826, 07.02.1828, 29.09.1828, 03.12.1829, 02.12.1830, 14.02.1833, 09.01.1834, 15. 11.1838; durch den Musikverein „Euterpe“: 20.10.1832, Saison 1833/34, 14.02.1842; vgl. Hagels, op. cit., passim.

[14] Vgl. „Leipzig am 23sten Februar“, in: AmZ XXXII (1830), 144-147; hier Sp. 144.

[15] „Uebersicht des Musikzustandes in Breslau“, in: AmZ 33 (1831), Sp. 89-94; hier Sp. 92; der Artikel, der mit „A. K.“ gezeichnet ist, wurde wahrscheinlich von August Kahlert verfasst.

[16] Vgl. „Magdeburg“, in: AmZ 33 (1831), Sp. 486-489; hier Sp. 488.

[17] Vgl. „Jena“, in: AmZ 34 (1832), Sp. 451-453; hier Sp. 452.

[18] „Prag“, in: AmZ 35 (1833), Sp. 188-192; hier Sp. 190.

[19] „Basel“, in: AmZ 36 (1834), Sp. 294-295; hier Sp. 295.

[20] „Jena“, in: AmZ 36 (1834), Sp. 368-370; hier Sp. 369.

[21] „Uebersicht der Concerte in Halle seit Michaelis 1834 bis Ostern 1835“, in: AmZ 37 (1835), Sp. 381-383; hier Sp. 381f.

[22] „Der Musikverein zu Erfurt“, in: AmZ 37 (1835), Sp. 757-759; hier Sp. 758f.

[23] „Dessau“, in: AmZ 40 (1838), Sp. 17-19; hier Sp. 18.

[24] „Prag“, in: AmZ 40 (1838), Sp. 353-355; hier Sp. 353.

[25] László Strauß-Németh, Johann Wenzel Kalliwoda, a.a.O., Bd. 2, S. 45.

[26] Vgl. z.B. die von Strauß-Németh (Johann Wenzel Kalliwoda, a.a.O., Bd. 1, S. 133f.) zitierten Urteile von Moritz Fürstenau und Hugo Kallen; Karl Strunz bevorzugt die dritte Sinfonie (vgl. ders., in: Die Musik., a.a.O., S. 292; ders., in: Deutsche Arbeit, a.a.O., S. 648); in der Kritik Robert Schumanns schneidet die fünfte Sinfonie am besten ab; vgl. NZfM 12 (1840), S. 88; NZfM 12 (1840), S.143; vgl. dazu auch Dürrs Auseinandersetzung mit Schumanns Begriff der „Zärte“: Dürr, op. cit. , passim.

[27] August Gathy, Musikalisches Conversations-Lexikon. Encyklopädie der gesammten Musik-Wissenschaft für Künstler, Kunstfreunde und Gebildete, 2Hamburg 1840 [1Leipzig 1835] S. 246. Die dritte Sinfonie kommt ausnahmsweise sehr schlecht weg, indem in dem Artikel fortgefahren wird: „Die dritte Sinfonie athmet mehr erhabene, dabei aber forcirte kalte Künstlichkeit, als warmes Leben; der Komponist wollte wie ein Beethoven origineller werden, verfiel aber dabei in eine von seiner vorigen Art verschiedene Schwerfälligkeit und Unnatur, wobei wir jedoch viele einzelne große Schönheiten der Sinfonie nicht verkennen.“ Ebd.

[28] Kretzschmar, op. cit., 2Leipzig 1891, S. 137. Gleicher Wortlaut in: op. cit., 4Leipzig 1913, S. 286f. Als Kalliwodas sinfonisches Hauptwerk sieht Kretzschmar indes, wie später Strunz, Kalliwodas dritte Sinfonie; vgl. ebd.

[29] Die Sinfonie sei „remarkable for the contrapuntal, occasionally canonic, style of all movements.“ David E. Fenske, „Introduction“, a.a.O., S. xl.

[30] László Strauß-Németh, Johann Wenzel Kalliwoda, a.a.O., Bd. 1, S. 144.

[31] László Strauß-Németh, Johann Wenzel Kalliwoda, a.a.O., Bd. 1, S. 147.

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